1955 – ich war 7 Jahre alt, das klingt wie aus einer anderen Welt. Es war Winter, bitterkalt, und das Einzige, was in unserer kleinen Welt konstant Wärme ausstrahlte, war der Herd in der Mitte des Raumes. Kein Strom, kein Radio, kein Lärm – nur der Wind und die Fantasie meines Vaters, der uns mit seiner Trompete selbst komponierte Stücke vorspielte. Lasso, unser Hund, stahl ihm regelmäßig mit seinem Gejaule, bei dem er versuchte, die Töne zu treffen, die Show. Meine Brüder und ich hatten immer riesengroßen Spaß, den beiden beim Musizieren zuzusehen.
Wir lebten alle in einem Raum. Da wurde gekocht, gebügelt, gealbert, gestritten und gelacht – oft alles gleichzeitig. Mutter liebte es, zu singen. Sie sang mit großer Leidenschaft. Die Texte und die Melodien, frei erfunden, interpretierte sie wie eine Diva. Ihre Stimme war manchmal schief, aber voller Seele – ein tägliches Konzert im flackernden Licht der Petroleumlampen.
Die Brüder veranstalteten ein Durcheinander, als hätten sie persönlich die Aufgabe übernommen, den Hausfrieden zu testen. Einer spielte Dirigent mit einem Kochlöffel, der andere versuchte sich an der Erfindung des rückwärtigen Purzelbaums. Mutter mahnte sie, etwas leiser zu sein. Lediglich mein Vater blieb die ruhige Insel inmitten dieses turbulenten Tohuwabohu.
An diesem Abend hatte er eine Mission: Uns das Schachspiel näherzubringen. Nicht mit echten Figuren oder echtem Brett – nein, mit Schrauben, Kitt und Knöpfen. Der König war eine umgedrehte Schraube, würdevoll und rostig. Die Dame, eine dickere Variante, die sich sichtbar wichtig nahm. Die Bauern bestanden aus alten Hosenknöpfen und bewegten sich nur widerwillig, als hätten sie Angst, vom Brett zu fallen. Springer wurden aus Fensterkitt modelliert, was eine der wenigen handwerklichen Disziplinen war, in der Vater fluchte – leise, aber mit Nachdruck. „Verdammter Kitt – hält nie, wenn man ihn braucht, und klebt ewig, wenn man ihn loswerden will.“
Ich war fasziniert von der Magie, mit der mein Vater aus Alltagsgegenständen ein königliches Spiel erschuf. Während er erklärte, wie sich die Figuren bewegen dürfen, liefen meine Gedanken los wie Springer: zwei vor, eins zur Seite – direkt in die Welt der Fantasie.Meine Brüder zeigten leider weniger Begeisterung, während Vater noch die erste Regel erklärte, waren sie längst zur Tür hinaus verschwunden. Auf der Suche nach neuen Abenteuern, bei denen keine Schrauben oder Kittfiguren beteiligt waren. Na ja, wenigstens einer hat Interesse daran, sagte mein Vater und zwinkerte mir zu.
Der Winter war lang, und die Tage kurz. Ohne Strom gingen wir früh schlafen. Aber vor dem Zubettgehen gab es fast jeden Abend eine Partie Schach im Lampenschein. Vater spielte mit Geduld, ich mit Ehrgeiz. Die Figuren wurden mir von Tag zu Tag vertrauter und die Geschichten dahinter immer reicher.
Mein jüngerer Bruder und ich sind in Burgau geboren (meine älteren Brüder in Wien) wuchsen wie kleine Wildlinge in der Natur auf. Mit selbst gebasteltem Pfeil und Bogen und unserem Hund barfuß durchs Gras. Hütten zwischen den Bäumen, Regentage am Fenster, mit selbst erfundenen Geschichten.
Unser Lehrplan war einfach: lernen vom Leben. Der Wind war unser Radio, der Wald unser Kino. Heute, da ich meine Memoiren schreibe, erscheint mir dieses Leben wie ein Traum aus Moos und Petroleum. Es war einfach, ja. Aber auch voller tiefe. Und voller kleiner Königreiche aus Schrauben, die mir mehr beigebracht haben als manche Lehrer in der Schule.
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